4. Konzert: NDR Radiophilharmonie

Wenn auf einmal zwei LKW mit der Beschriftung des NDR in Leer auf den Parkplatz am Theater an der Blinke einbiegen, dann muss schon Großes bevorstehen. Entladen werden mussten etliche Flightcases mit Kontrabässen, Celli, Pauken, einem nicht ganz so kleinen Gong, Notenständern, Dirigentenpodest; dazu die Garderoben für die 65 Musiker, die später mit zwei Reisebussen ebenfalls am Theater angekommen waren. Für den Auf- und Abbau gilt der Dank des Vereins junger Kaufleute Joschka und Sven und vielen Schülerinnen und Schülern des UEG. Eine halbe Stunde, nachdem der Dirigent Ivan Repusic die Pathetique von Tschaikowsky abgewunken hatte (welch wohltuende, lang andauernde Stille nach diesem ergreifenden Schluss), war die Bühne nur noch mit den Podesten bestückt.

Die logistische Reihenfolge am Freitag war: Podestaufbau, Flügelstimmung, Aufbau NDR, Probe des Solisten, Probe des Orchesters, Nachstimmung Flügel, Einlass Publikum, unterhaltsame Einführung in das Konzert durch den Cellisten Sebastian Edelmann (vielen Dank!!), Konzert, Abbau NDR, Flügel ins Magazin und Podestabbau.

Natürlich besteht überall eine Äquivalenz zwischen der Besetzungsgröße eines Klangkörpers und der Besucherzahl, das war auch am vergangenen Freitag nicht anders. Viele Interessierte hatten sich Karten an der Abendkasse reservieren lassen. Vielleicht konnte die Vorstellung des Programms der Spielzeit 23/24 vor dem Konzert den einen oder anderen dazu bewegen, sich für ein Abonnement für die kommende Spielzeit zu bewerben. Zum Konzert selbst lesen Sie die Kritik von Frau Barbara Fischer:

Konzertkritik

Kammermusik in allen Ehren: doch ein großes Orchester zu erleben, ist schon etwas Besonderes. Und wenn es dann noch ein so renommierter Klangkörper wie die NDR Radiophilharmonie sein kann, ist der Zuspruch enorm. Am Freitag gastierte das Orchester unter der Leitung von Ivan Repusic in der Leeraner Blinke vor einem begeisterten Publikum; ein Glücksgriff des Vereins junger Kaufleute, diese begeisterten Musiker mit einem anspruchsvollen Programm und einem begeisternden Pianisten punktgenau nach der Pandemie zu präsentieren. Das Klavierkonzert d-Moll von Sergej Rachmaninow mit dem Pianisten Simon Trpceski ist nicht eines der bekanntesten, obwohl es in Fülle pianistische Glanzpunkte und schöne Kantilenen bietet; doch letztere sind wie folkloristische Anlehnungen und raumgreifende Wucht sehr kurz, dass sie nicht haften bleiben. Dagegen gibt es vielerlei Gelegenheit, einmal nicht kamera-fremdgelenkt diese Musik wirklich zu erleben, sie in ihrer Struktur, dem Aufbau auch visuell zu verfolgen, die Soloinstrumente, deren Eigenklang. Zu erleben, wie musikalische Stimmungen und Bilder entstehen, wie Aktion im Orchester und Fortissimo zusammengehören. Die Spannung, wie Becken und Pauken Akzente setzen und den Klang verändern. Wie ein brillanter Pianist und ein exzellentes Orchester ineinandergreifen, zu einer klingenden organischen Einheit verwachsen. Schauen, hören, verstehen. Begeisterung! Die Zugabe nicht für sich zu deklarieren, sondern sie mit einem Orchestermusiker (als pars pro toto?) zu teilen, ist eine außerordentlich noble und von großer Kollegialität zeugende Geste. Und so komprimierte Rachmaninows „Vocalise“ für Violoncello und Klavier all die zarten und innerlichen Momente, die man zuvor vielleicht vermisst hatte, nicht nur zu musikalischer Eindrücklichkeit, sondern ebenso zu menschlicher Tiefe. Dass die Radiophilharmonie über die beruflich erzwungene Gemeinschaft hinaus eine intakte innere Struktur besitzt, zeigte sich nach der Zugabe an dem neidlosen Lob der Kollegen sowie an der Herzlichkeit untereinander nach dem Schlussapplaus. Dies sind keine eingeübten Rituale; mag sein, dass die „runde“ und klangliche Homogenität der Radiophilharmonie zum Teil auf dieser gegenseitigen Wertschätzung beruht. Ein „offenes Ohr“ für den anderen zu haben, ist in dem Metier ein absolutes Muss, macht das Orchester aber, wie gehört, zu einem idealen Partner für Solisten, über die die NDRler im übrigen in den eigenen Reihen reichlich verfügen. Tschaikowskys „Pathétique“ geizte weder mit großen Gesten noch mit Passagen zum Mit-nach-Hause-nehmen, auch dank Ivan Repusic, der eine zwar deutliche, aber überaus leichte Hand mit viel Freiraum für die Eigenverantwortung der Musiker am Ruder durch die mächtigen Werke besaß. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit ihnen ist ein weites Feld; das Rundum-Erlebnis Orchestermusik war an sich schon grandios.

Barbara Fischer

NDR Radiophilharmonie

Simon Trpceski